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Ãœberblick:
Themen:
- Familie und Pflicht: Lisa steht zwischen ihrer Verantwortung für die kranke Mutter und der Sehnsucht nach ihrer Schwester.
- Freiheit und Gefangenschaft: Die Geschichte spiegelt die Einschränkungen des DDR-Systems wider.
- Entscheidungen und Konsequenzen: Lisa muss zwischen zwei Lebenswegen wählen, die beide ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringen.
Charaktere:
- Lisa: Die Protagonistin, die vor einer schweren Entscheidung steht.
- Marie: Lisas Schwester, die bereits im Westen lebt.
- Die Mutter: Eine kranke Frau, die Lisas Pflege bedarf.
Optionen für das Ende:
- Option: Lisa bleibt in der DDR und wartet auf den Fall der Mauer.
- Option: Lisa wagt die Ausreise in den Westen und nimmt ihre Mutter mit.
Hinter der Mauer
Der Nachmittagshimmel hing bleiern über Leipzig als Lisa in ihrer kleinen Wohnung saß, den zerknitterten Brief in den Händen. Die Tinte verschwamm leicht an den Rändern, wo ihre Finger unruhig darübergefahren waren. Er war von Marie, ihrer älteren Schwester, die noch vor dem Bau der Mauer dem grauen Alltag entflohen war. Ein Stich wehmütiger Erinnerung durchfuhr Lisa, als sie an Maries unbeschwertes Lachen dachte, das so selten geworden war in ihren eigenen vier Wänden.
„Meine liebste Lisa", begann Marie, die Worte in einer vertrauten, schwungvollen Handschrift, „endlich, nach all den Jahren, zeichnet sich eine Möglichkeit, eine legale Möglichkeit, wie du zu uns in den Westen kommen könntest. Ich habe alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet."
Lisa blickte auf das abgenutzte Sofa, auf dem ihre Mutter meist saß, ein stiller Schatten ihrer selbst. Die Verantwortung für ihre Pflege lastete schwer auf Lisas Schultern, eine Bürde, die sie mit Liebe trug, aber die ihr auch die Flügel stutzte. Ihr Lehrerinnenberuf, ihre Schüler, die ihr ans Herz gewachsen waren – all das war ihr Lebensmittelpunkt. Doch da war auch diese nagende Sehnsucht nach Marie, nach einem Wiedersehen, nach der Freiheit, die in der stickigen Enge der DDR wie ein ferner Traum schimmerte. Was aber würde aus ihrer Mutter ohne sie werden? Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu.
Maries Plan schien bis ins Detail durchdacht. Eine westdeutsche Firma, so stand es im Brief, sei bereit, Lisa als hochqualifizierte Fachkraft anzuwerben. Solche Fälle, in denen westdeutsche Unternehmen Druck auf die Behörden ausübten, wurden mitunter genehmigt, ein seltenes Schlupfloch in der ansonsten undurchlässigen Mauer des Regimes. Lisa fragte sich, welchen Preis Marie dafür wohl hatte zahlen müssen.
Sie trat ans Fenster. Das monotone Grau der Plattenbauten spiegelte ihre innere Zerrissenheit wider. Ihr Blick fiel auf ein vergilbtes Foto auf dem Schreibtisch – ihre Familie, vereint und unbeschwert, aufgenommen in jenen sorglosen Tagen vor der Teilung. Ein Lächeln huschte über Lisas Gesicht, gefolgt von einem tiefen Seufzer. Nun stand sie vor einer Zäsur: Sollte sie alles, was ihr vertraut war, hinter sich lassen, diesen riskanten Schritt in eine ungewisse Zukunft wagen? Oder sollte sie bleiben, ihre Pflicht erfüllen, wissend, dass ein Teil ihres Herzens für immer im Westen verweilen würde?
Wie geht die Geschichte weiter? Du hast zwei Optionen:
Lisa entscheidet sich zu bleiben
Nach unzähligen schlaflosen Nächten, in denen sie die Vor- und Nachteile wie Steine in ihrer Hand abgewägt hatte, setzte sich Lisa an den Schreibtisch. Die Worte an Marie fielen ihr schwer, jeder Satz ein kleines Zugeständnis an das Schicksal. Sie schilderte den Alltag mit ihrer schwerkranken Mutter, die tägliche Pflege, die weit mehr als nur eine Pflicht war. „Versteh mich, bitte, meine Liebste", schrieb sie mit zitternder Hand, die Tinte verschwamm leicht unter den aufsteigenden Tränen. „Mama braucht mich hier, jetzt mehr denn je. Ich kann sie nicht im Stich lassen, so sehr ich mir ein Wiedersehen mit dir wünsche." Eine bleierne Schwere legte sich auf ihr Herz, als sie den Brief abschickte.
Die folgenden Monate waren von einer stillen Melancholie geprägt. Doch inmitten der Monotonie des DDR-Alltags fand Lisa neue Kraft in ihrer Arbeit. Sie initiierte einen geheimen Literaturkreis, in dem ihre Schülerinnen und Schüler, mit leuchtenden Augen und gedämpfter Stimme, verbotene Bücher aus dem Westen lasen und leidenschaftlich diskutierten. In diesen Momenten spürte Lisa einen Hauch von Freiheit, eine geistige Rebellion gegen die Enge des Systems.
Die Zeit mit ihrer Mutter wurde kostbarer, jede gemeinsame Stunde ein Geschenk. Sie kramten alte Fotoalben hervor, erzählten sich Geschichten aus einer unbeschwerten Vergangenheit, und manchmal, wenn die Nächte besonders dunkel waren, holten sie heimlich die Briefe und Fotos hervor, die Marie schickte, flüchtige Fenster in eine andere Welt. In Maries Zeilen schwang oft ein Unterton von Bedauern mit, eine stille Frage nach Lisas Entscheidung.
Als der Novemberwind des Jahres 1989 die letzten Blätter von den Bäumen riss, geschah das Unfassbare. Die Mauer fiel. Plötzlich, an einem kalten Abend, stand Marie vor Lisas Tür, das Gesicht gerötet von der Aufregung und der winterlichen Kälte. Die Schwestern fielen sich in die Arme, ein stummer Schrei der Erleichterung und des wiedergefundenen Glücks. „Du hattest recht", flüsterte Marie leise, die Stimme brüchig vor Emotionen. „Manchmal erfordert es wahre Stärke, zu bleiben." Gemeinsam besuchten sie ihre Mutter im Krankenhaus. Ihre Augen glänzten vor Freude, als sie ihre beiden Töchter vereint sah. In ihren letzten Tagen waren beide an ihrer Seite, ein Kreis hatte sich geschlossen.
Lisa wagt den Schritt
Ein Gefühl von Aufbruch und Zuversicht durchströmte Lisa, als sie sich für die Ausreise entschied. Mit zitternden Händen füllte sie die Anträge aus, jeder Strich eine Manifestation ihrer Hoffnung auf ein anderes Leben. Ihrer Mutter erzählte sie zunächst nichts, wollte sie nicht unnötig beunruhigen, solange die Entscheidung noch nicht in Stein gemeißelt war. Die Wochen des Wartens zogen sich wie ein zäher Kaugummi, jede Nachricht vom Amt ließ ihr Herz schneller schlagen.
Dann, eines grauen Morgens, lag er im Briefkasten: der offizielle Bescheid mit dem Stempel der Genehmigung. Statt Verzweiflung zeigte Lisas Mutter überraschende Akzeptanz, als Lisa ihr von den Plänen erzählte. Tränen der Rührung glänzten in den Augen der alten Frau. „Ich habe immer insgeheim gehofft, dass du diesen Schritt wagen würdest, mein Kind", flüsterte sie mit brüchiger Stimme. „Deine Schwester hat mir auch geschrieben… von besseren Ärzten im Westen. Vielleicht… vielleicht können sie mir ja doch noch helfen." Ein Hoffnungsschimmer flackerte in ihren müden Augen auf.
Was Lisa nicht ahnte: Marie hatte längst alles eingefädelt. Mit Beharrlichkeit und unter Einsatz all ihrer Kontakte hatte sie auch für die Mutter einen Plan geschmiedet. Zähe Verhandlungen mit westdeutschen Ärzten und Behörden, gestützt auf das Argument ‚humanitärer Gründe', führten tatsächlich zu einer Ausreisegenehmigung. Ein Wettlauf gegen die Zeit begann, geprägt von heimlichen Telefonaten und konspirativen Treffen.
Ein Jahr später saßen die drei Frauen in Maries kleinem Garten in Frankfurt. Die Sonne schien warm auf ihre Gesichter, Rosen blühten in verschwenderischer Pracht. Die Mutter erholte sich langsam von einer Operation, die in der DDR undenkbar gewesen wäre. Lisa unterrichtete an einer Gesamtschule, genoss die unzähligen kleinen Freiheiten des Alltags, die ihr zuvor so selbstverständlich gefehlt hatten. „Manchmal", sagte sie zu Marie, während ihre Mutter friedlich in einem Gartenstuhl döste, „manchmal braucht es einfach den Mut, alles zu riskieren." Ihre Blicke trafen sich, ein stilles Einverständnis darüber, dass ihr eingeschlagener Weg der richtige war.
Übungen – Hast du alles verstanden?
Mithilfe dieser Übungen kannst du überprüfen, ob du alles verstanden hast!
Was stimmt?
Diese Übungen sollen dazu beitragen, das Textverständnis zu vertiefen und die Sprachkenntnisse zu fördern.
Wenn du weniger als 25 Punkte erreicht hast, analysiere deine Fehler und lies/höre den Text noch einmal!
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